Fallgeschichte I. - Die Lebensgeschichte ergründen

Zu Behandlungsbeginn beschreibt Frau A. hauptsächlich körperliche Beschwerden wie Druck im Kopf, auf den Ohren, Taubheitsgefühle in den Händen und Füßen und innere Unruhe. Angefangen habe alles etwa fünf Monate vor dem Klinikaufenthalt mit Todesangst, Angst vor Herzinfarkt, Schwindel und Übelkeit.

Nach dem Klinikaufenthalt wisse sie, ihre Beschwerden seien psychischen Ursprungs. Einen Grund dafür könne sie aber nicht ausmachen. Es ginge ihr doch blendend, sie sei beruflich erfolgreich (Messeorganisatorin). Finanziell sei sie gut gestellt, habe zwei tolle Kinder (12 und 14 Jahre) und sich auch sonst gut in ihrem Leben arrangiert. Sie frage sich immer wieder, was diese Beschwerden sollen, sie wolle nur gesund werden.

Mittlerweile hätten sich Ängste entwickelt, ihren Job nicht mehr gut zu schaffen. Im Behandlungsverlauf macht die Bearbeitung der lebensgeschichtlichen Entwicklung deutlich, dass die Patientin in einer emotional vernachlässigenden Atmosphäre aufgewachsen ist.

Unsichere Beziehungen in der Kindheit 

In ihrer Kindheit und Jugend wurde sie nur äußerlich versorgt. An Körperkontakt zu den Eltern kann sie sich nicht erinnern. Schon früh ist sie für sich allein verantwortlich, auch für ihre Geschwister, die sie vor Angriffen anderer geschützt hat. Der häufig abwesende Vater ist an seiner Tochter nicht interessiert, und wegen seiner Alkoholsucht auch nicht ansprechbar. Mit zunehmendem Alkoholkonsum wird der Vater gewalttätig, körperlich schwach und krank. Er erleidet mit 40 Jahren einen Herzinfarkt. Die Mutter muss durch zusätzliche Nebentätigkeiten (Putzen) die Familie ernähren und ist durch die Mehrfachbelastung überfordert. Mit 14 Jahren erlebt die Patientin einen sexuellen Missbrauch durch einen Onkel.

In der aufdeckenden und deutenden psychotherapeutischen Arbeit erscheint die Lebensgeschichte dieser Patientin daher von unsicheren Beziehungen zu ihren Bezugspersonen geprägt. Ihre frühkindlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit, Zuwendung, Annahme, Liebe, Sicherheit, Vertrauen und Berechenbarkeit konnten nicht angemessen befriedigt werden. Es entstand ein tiefes Misstrauen verbunden mit Ängsten und Zweifeln.